Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 7. Juli 2010 (BStBl 2011 II S. 86) entschieden, dass § 17 Absatz 1 Satz 4 in Verbindung mit § 52 Absatz 1 Satz 1 EStG in der Fassung des Steuerentlastungsgesetzes 1999/2000/2002 (StEntlG 1999/2000/2002) vom 24. März 1999 (BGBl. I S. 402) gegen die verfassungsrechtlichen Grundsätze des Vertrauensschutzes verstößt und nichtig ist, soweit in einem Veräußerungsgewinn Wertsteigerungen steuerlich erfasst werden, die bis zur Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 am 31. März 1999 entstanden sind und die entweder – bei einer Veräußerung bis zu diesem Zeitpunkt – nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei realisiert worden sind oder – bei einer Veräußerung nach Verkündung des Gesetzes – sowohl zum Zeitpunkt der Verkündung als auch zum Zeitpunkt der Veräußerung nach der zuvor geltenden Rechtslage steuerfrei hätten realisiert werden können. Das BVerfG begründet seine Entscheidung damit, dass insoweit bereits eine konkrete Vermögensposition entstanden sei, die durch die rückwirkende Absenkung der Beteiligungsgrenze nachträglich entwertet werde. Das führe zu einer unzulässigen Ungleichbehandlung im Vergleich zu Anteilseignern, die ihre Anteile noch bis Ende 1998 verkauft hatten, da diese den Gewinn noch steuerfrei vereinnahmen konnten. Dies sei unter dem Gesichtspunkt der Lastengleichheit nicht zulässig.
Soweit sich der steuerliche Zugriff auf die erst nach der Verkündung der Neuregelung eintretenden Wertsteigerungen beschränke, begegne dies unter Gesichtspunkten des Vertrauensschutzes jedoch keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, auch wenn sie bislang steuerfrei gewesen wären. Zwar könne der Erwerb einer Beteiligung in einer bestimmten Höhe maßgeblich von der Erwartung bestimmt sein, etwaige Wertsteigerungen steuerfrei realisieren zu können. Die bloße Möglichkeit, Gewinne später steuerfrei vereinnahmen zu können, begründe aber keine vertrauensrechtlich geschützte Position, weil damit im Zeitpunkt des Erwerbs nicht sicher gerechnet werden könne.
Im Einvernehmen mit den obersten Finanzbehörden der Länder gelten für die Anwendung des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Juli 2010 (a. a. O.) die folgenden Grundsätze:
A. Beteiligung i. H. v. mehr als 25 %
War der Veräußerer in den letzten fünf Jahren vor der Veräußerung am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu mehr als 25 % beteiligt, hat der o. g. BVerfG-Beschluss keine Auswirkungen auf die steuerrechtliche Beurteilung der Veräußerung, da die Veräußerungen nach altem wie nach neuem Recht steuerbar sind.
B. Beteiligung i. H. v. weniger als 10 % vor Geltung des Steuersenkungsgesetzes (StSenkG) vom 23. Oktober 2000 (BStBl I S. 1433; BStBl I S. 1428)
Auf Veräußerungen vor Geltung des StSenkG hat der o. g. BVerfG-Beschluss keine Auswirkungen auf die steuerrechtliche Beurteilung der Veräußerung, wenn der Veräußerer in den letzten fünf Jahren vor der Veräußerung am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar durchgehend zu weniger als 10 % beteiligt war, da die Veräußerungen nach altem (mehr als 25 %) wie nach neuem (mindestens 10 %) Recht nicht steuerbar sind.
C. Beteiligung i. H. v. mind. 10 % aber höchstens 25 %
War der Veräußerer in den letzten fünf Jahren vor der Veräußerung am Kapital der Gesellschaft unmittelbar oder mittelbar zu höchstens 25 %, jedoch zu mind. 10 % beteiligt, gilt für die Besteuerung der Gewinne und Verluste aus der Veräußerung der Anteile Folgendes:
I. Veräußerung bis 31. März 1999
Der Gewinn aus der Veräußerung der Anteile ist nicht steuerbar.
II. Veräußerung ab dem 1. April 1999
1. Veräußerungsgewinne
Der Gewinn aus der Veräußerung der Anteile ist nur insoweit nicht steuerbar, als er auf den Wertzuwachs bis zum 31. März 1999 entfällt. Zur Ermittlung des Veräußerungsgewinns tritt abweichend von § 17 Absatz 2 EStG der gemeine Wert der veräußerten Anteile zum 31. März 1999 an die Stelle der ursprünglichen Anschaffungskosten. Soweit es sich um börsennotierte Anteile an Kapitalgesellschaften handelt, ist dies der Börsenkurs vom 31. März 1999. Liegt für den 31. März 1999 keine Notierung vor, ist der letzte innerhalb von 30 Tagen im regulierten Markt notierte Kurs anzusetzen. Soweit es sich nicht um börsennotierte Anteile handelt, vgl. Aussagen unter a)-c). Einer anteiligen Zuordnung der Veräußerungskosten i. S. v. § 17 Absatz 2 EStG bedarf es nicht. Diese sind unter Beachtung von § 3c Absatz 2 EStG in vollem Umfang vom steuerbaren Veräußerungserlös abzuziehen.
Beispiel:
A ist seit 1990 zu 10 % an der A-GmbH (AK umgerechnet 100.000 €) beteiligt. Er veräußert die Beteiligung am 2. August 2010 für 1.000.000 €. Der Wert der Beteiligung belief sich am 31. März 1999 auf umgerechnet 500.000 €.
Die beim Verkauf realisierten stillen Reserven (900.000 €) dürfen nur besteuert werden, soweit sie nach dem 31. März 1999 entstanden sind. Es dürfen im VZ 2010 daher nur 500.000 € (1.000.000 € (Veräußerungspreis) abzüglich 500.000 € (Wert der Beteiligung zum 31. März 1999)) im Teileinkünfteverfahren besteuert werden. Der steuerpflichtige Veräußerungsgewinn im Jahr 2010 beträgt demnach (500.000 € x 60 % =) 300.000 €.
a) Vereinfachungsregelung zur Ermittlung des steuerbaren Veräußerungsgewinns
Aus Vereinfachungsgründen ist der Umfang des steuerbaren Wertzuwachses der veräußerten Anteile regelmäßig entsprechend dem Verhältnis der Besitzzeit nach dem 31. März 1999 im Vergleich zur Gesamthaltedauer aus Vereinfachungsgründen zeitanteilig linear (monatsweise) zu ermitteln. Angefangene Monate werden bei der Ermittlung der Gesamtbesitzzeit aufgerundet und bei der Ermittlung der steuerbaren Besitzzeit (1. April 1999 bis Veräußerungsdatum) abgerundet.
Beispiel:
A hat am 15. Januar 1997 Anteile i. H. v. 20 % an der C-GmbH erworben (AK: umgerechnet 100.000 €). Am 3. August 2009 veräußerte A die Anteile für 500.000 €.
Die Gesamtbesitzzeit für die Anteile an der C-GmbH beträgt 150 volle und einen 1 angefangenen Monat (=aufgerundet 151 Monate). Auf den Zeitraum 31. März 1999 bis 3. August 2009 entfallen 124 volle Monate und 1 angefangener Monat (= abgerundet 124 Monate). Der Wertzuwachs von 400.000 € für die Anteile an der C-GmbH ist zu einem Anteil von 124/151 = 328.476 € steuerbar. Unter Berücksichtigung des Teileinkünfteverfahrens beträgt der steuerpflichtige Veräußerungsgewinn im Jahr 2009 (328.476 € x 60 % =) 197.085 €.
b) Abweichende Aufteilung zugunsten des Steuerpflichtigen
Abweichend davon findet die Vereinfachungsregelung auf Antrag des Steuerpflichtigen keine Anwendung, wenn dieser einen tatsächlich höheren Wertzuwachs für den Zeitraum zwischen dem Erwerb der Anteile und dem Zeitpunkt der Verkündung des StEntlG 1999/2000/2002 in geeigneter Weise (z. B. durch Gutachten oder anhand von tatsächlichen Veräußerungen in zeitlicher Nähe zum 31. März 1999) nachweist. Vgl. dazu auch die Aussagen unter II.3.
c) Abweichende Aufteilung zuungunsten des Steuerpflichtigen
Sofern im Einzelfall die grundsätzlich durchzuführende zeitanteilig lineare Aufteilung des Wertzuwachses zu offensichtlichen Widersprüchen zu den tatsächlichen Wertverhältnissen führt und klare, nachweisbare Anhaltspunkte für eine wesentliche – den linear ermittelten steuerbaren Wertzuwachs übersteigende – Wertsteigerung für den Zeitraum nach dem 31. März 1999 und dem Veräußerungszeitpunkt vorliegen, kann die Finanzverwaltung abweichend von der Vereinfachungsregelung auch eine andere – im Einzelfall sachgerechtere – Aufteilung des Wertzuwachses auch zuungunsten des Steuerpflichtigen durchführen. Vgl. dazu auch die Aussagen unter II.3.
2. Veräußerungsverluste
Auf Veräußerungsverluste (bezogen auf die gesamte Besitzzeit) i. S. v. § 17 EStG findet der Beschluss des BVerfG vom 7. Juli 2010 (a. a. O.) keine Anwendung. Bei der Ermittlung des Veräußerungsverlustes sind daher die ursprünglichen Anschaffungskosten zu berücksichtigen (§ 17 Absatz 2 EStG). Dies gilt auch, wenn bis zum 31. März 1999 eine Werterhöhung eingetreten ist (vgl. auch Aussagen unter II.3). Der Verlust ist ohne zeitanteilig lineare Aufteilung unter Beachtung des § 3c Absatz 2 EStG bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens anzusetzen.
Beispiel
A war seit 1990 zu 10 % an der C-GmbH (AK umgerechnet 100.000 €) beteiligt. Am 31. März 1999 belief sich der Wert seiner Anteile auf umgerechnet 60.000 €. Am 2. August 2010 veräußerte A seine Anteile für 50.000 €.
Aus dem Verkauf entsteht im VZ 2010 ein Veräußerungsverlust i. H. v. 50.000 €, der im Teileinkünfteverfahren (§ 3 Nummer 40 Satz 1 Buchstabe c EStG i. V. m. § 3c Absatz 2 EStG) mit 60 % (30.000 €) abzugsfähig ist.
3. Berücksichtigung von zwischenzeitlichen Wertminderungen
Wird von der Vereinfachungsregelung unter II.1 nicht Gebrauch gemacht, gilt für die Berücksichtigung von zwischenzeitlichen Wertminderungen (= Wert der Beteiligung ist unter die Anschaffungskosten gesunken.) Folgendes:
a) Wertminderungen bis zum 31. März 1999
Wertminderungen, die bis zum 31. März 1999 eingetreten sind, jedoch nach diesem Zeitpunkt wieder aufgeholt wurden, bleiben ohne steuerliche Auswirkung. Der Beschluss des BVerfG vom 7. Juli 2010 (a. a. O.) ist nicht dahingehend zu interpretieren, dass bis zum 31. März 1999 eingetretene Wertminderungen den späteren Veräußerungsgewinn erhöhen. Der Beschluss betrifft ausdrücklich nur die bis zum 31. März 1999 eingetretene Wertsteigerung als verfassungsrechtlich geschützte Vermögensposition. In diesen Fällen sind nach Maßgabe der Regelungen unter II.1.c) bei der Ermittlung des Veräußerungsgewinns nach § 17 Absatz 2 EStG die ursprünglichen Anschaffungskosten zu berücksichtigen.
Beispiel
A war seit 1990 zu 10 % an der C-GmbH (AK umgerechnet 100.000 €) beteiligt. Am 31. März 1999 belief sich der Wert seiner Anteile auf umgerechnet 60.000 €. Am 2. August 2010 veräußerte A seine Anteile für 300.000 €.
Aus dem Verkauf entsteht ein Veräußerungsgewinn von 200.000 €, der unter Berücksichtigung des Teileinkünfteverfahrens (§ 3 Nummer 40 Satz 1 Buchstabe c EStG i. V. m. § 3c Absatz 2 EStG) zu 60 % (= 120.000 €) steuerpflichtig ist.
b) Wertminderungen nach dem 31. März 1999
Fand bis zum 31. März 1999 eine Werterhöhung statt und wurde diese durch eine spätere Wertminderung vollständig kompensiert, tritt im Fall der Veräußerung der Anteile der Wert der Beteiligung zum 31. März 1999 nach Maßgabe der Regelungen unter II.1.c) nicht an die Stelle der Anschaffungskosten, so dass sowohl die Werterhöhung als auch die spätere Wertminderung außer Ansatz bleiben.
Beispiel
A war seit 1990 zu 10 % an der C-GmbH (AK umgerechnet 100.000 €) beteiligt. Am 31. März 1999 belief sich der Wert seiner Anteile auf umgerechnet 500.000 €. Am 2. August 2010 veräußerte A seine Anteile für 100.000 €.
Aus dem Verkauf entsteht ein Veräußerungsgewinn von 0 €. Ein Veräußerungsverlust ist nicht zu berücksichtigen, da der gemeine Wert der Anteile zum 31. März 1999 nicht als Anschaffungskosten zu betrachten ist.
Fand bis zum 31. März 1999 eine vom Steuerpflichtigen nachgewiesene Werterhöhung statt und trat danach eine Wertminderung ein, die die Werterhöhung nur teilweise kompensierte, ist die noch nicht verzehrte Werterhöhung nach den Grundsätzen des o. g. BVerfG-Beschlusses nicht steuerbar.
Beispiel
A war seit 1990 zu 10 % an der C-GmbH (AK umgerechnet 100.000 €) beteiligt. Am 31. März 1999 belief sich der Wert seiner Anteile sich auf umgerechnet 500.000 €. Am 2. August 2010 veräußerte A seine Anteile für 300.000 €.
Aus dem Verkauf entsteht an sich ein Veräußerungsgewinn von 200.000 €. Da dieser Veräußerungsgewinn auf eine Werterhöhung zurückgeht, die vor dem 31. März 1999 eingetreten ist, ist er nicht steuerbar.
D. Absenkung der Beteiligungsgrenze auf mind. 1 % durch das StSenkG vom 23. Oktober 2000 (BGBl. I S. 1435 vom 26. Oktober 2000, BStBl I S. 1428)
Die unter A. bis C. dargestellten Grundsätze sind entsprechend anzuwenden. Das StSenkG ist am 26. Oktober 2000 im BGBl. verkündet worden.
E. Anwendungsregelung
Dieses Schreiben ist auf alle noch offenen Fälle anzuwenden.
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